Carespektive Infothek

Solvency II und Markttransparenz

Für die Versicherungsbranche wird es nach der (noch bevorstehenden) Umsetzung der Vermittler­richtlinie in den nächsten Jahren zu einer weiteren bedeutsamen Entwicklung auf EU-Ebene kommen, der Einführung risikobasierter Eigenmittelvorschriften für Versicherungsunternehmen, oder "Solvency II". Bis Mitte 2007 wird die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf vorlegen. Bis Ende 2008 sollen die Arbeiten auf europäischer Ebene abgeschlossen sein. (Lipowsky, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, Vor § 53c, Rn. 15. ) Daran schließt sich dann die Umsetzung in nationales Recht an. Ab 2010 ist mit der Anwendung der neuen Regelungen für deutsche Versiche­rungsunternehmen zu rechnen. (Vgl. GDV, 10 Kernpunkte der deutschen Versicherungswirtschaft zu Solvency II, S. 2. ) Auch wenn der Richtlinienentwurf der EU-Kommission noch nicht vorliegt, werden die zu erwartenden Änderungen bereits ausgiebig diskutiert. (Vgl. Berkhoff/Bölscher, Neue Herausforderun­gen an die deutsche Versicherungsaufsicht in den Zeiten von Solvency II, ZfV 2006, S. 284 ff.; Weber-Rey/Baltzer, Aktuelle Entwicklungen im Versicherungsaufsichtsrecht, WM 2006, S. 205 ff. (213); Ploemacher, Solvency II und Risikomanagement von Versicherern, ZfV 2005, S. 324 ff; Solvency II = Basel II + X, VW 2004, S. 1399 ff.; grundlegend auch: Gründl/Perlet (Hrsg.), Solvency II & Risikomanagement, 2005.)

Ziel des Projektes Solvency II ist es, eine auf Prinzipien des Risikomanagements beruhende Mindestkapitalausstattung zur Sicherstellung der dauernden Erfüllbarkeit von Versicherungsverträgen einzuführen. Die Regelungen sollen durch qualitative Anforderungen und Berichtspflichten ergänzt werden. Die Regelungen sind in drei Komplexe, Säulen genannt, aufgeteilt: Säule 1 enthält die risikobasierten Eigenmittelvorschriften. Säule 2 enthält qualitative Anforderungen an das Risikomana­gement durch die Versicherungsaufsicht, und Säule 3 enthält Berichtspflichten und soll durch ver­stärkte Publizitätsanforderungen die Markttransparenz erhöhen.

Zentral für Solvency II sind die künftigen Vorschriften zur Eigenmittelausstattung. Die Kommission hat hinsichtlich der Eigenkapitalvorschriften vorgeschlagen, ein verbindliches Zielkapitalniveau und Mindestkapitalniveau einzuführen. (Europäische Kommission, Entwurf eines künftigen Aufsichtssystems in der EU - Empfehlungen der Kommissionsdienststellen (MARKT/2509/03), S. 7.) Das Zielkapitalniveau soll nach Auffassung der Kommission dem Wirtschaftskapital entsprechen, das ein Unternehmen benötigt, um seine Tätigkeit mit einer zu beziffernden geringen Konkurswahrscheinlichkeit auszuüben. (Kommission, a. a. O.) Die meisten Risiken, denen ein Ver­sicherungsunternehmen ausgesetzt ist, sollen hier einbezogen und beziffert sein. Zur Bestimmung des Risikos sollen die Unternehmen interne Risikomodelle zur Berechnung des Zieleigenkapitalniveaus verwenden dürfen. (Kommission, a. a. O., S. 8.) Daneben soll ein Mindesteigenkapitalniveau festgelegt werden, das einfach und objektiv zu berechnen sein und als Auslöser für aufsichtsrechtliche Maßnahmen dienen soll. Die Eigenkapitalausstattung soll sich stärker als bisher an den tatsächlichen vom jeweiligen Versicherer getragenen Risiken orientieren, die umfassend, realistisch und zeitnah dargestellt werden müssen. (Vgl. Ploemacher, Solvency II und Risikomanagement von Versicherern, ZfV 2005, S. 324 ff.)

Die neuen Regelungen zu Eigenkapitalausstattung und Risikomanagement stehen momentan im Zentrum der Diskussion zu Solvency II. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob sich die Ände­rungen auf die Transparenz und den Wettbewerb im Versicherungsmarkt auswirken werden. Die dritte Säule von Solvency II soll durch Berichtspflichten und höhere Publizitätsanforderungen als bisher die Transparenz des Versicherungsmarktes erhöhen. Die Instrumente dazu werden u.a. sein: Die Offenlegung der Kapitalstruktur, der Risikomessung und der Risikomanagementmethoden und des Risiko­profils und die Offenlegung der angemessenen Kapitalausstattung. (Siehe dazu die Grafik bei Ploemacher, ZfV 2005, S. 324 ff. (327).) Nach Auffassung der EU-Kommission stellen die Offenlegungspflichten einen wichtigen Teil der künftigen Aufsichtsarchitektur in der EU dar. Allerdings hingen die Pflichten von den für die erste und zweite Säule gewählten Verfahren und Maßnahmen ab, so dass deren genaue Festlegung erst im Laufe der weiteren Arbeiten an Solvency II möglich sei. (Kommission, a. a. O., S. 10.)

Da angenommen wird, dass die Solvency II- Bestimungen und die Rechnungslegungsvorschriften, die "International Financial Reporting Standards" (IFRS) in etwa zur gleichen Zeit (2009) in Kraft treten und im Sinne eines konsistenten Konzeptes in Abstimmung zueinander getroffen werden (Schubert, Stand der Diskussion und Tendenzen im Projekt Solvency II der EU-Kommission, in: Gründl/Perlet (Hrsg.), Solvency II & Risikomanagement, 2005, S. 35 ff. (39 f.); ebenso Kölschbach, Aktuelle Entwicklungen in der Beaufsichti­gung und Rechnungslegung von Versicherungsunternehmen: IFRS und Solvency II, ZVersWiss 2004, S. 675 ff. (684).), können die künftigen internationalen Regelun­gen zur Rechnungslegung Einfluss auf die Regelungen zur Markttransparenz haben. (Zielke, IFRS für Versicherer, 2005.) Grundsätzlich können Versicherungsunternehmen nach den handelsrechtlichen Vorschriften oder nach den IFRS bilanzieren. Bestimmte Versicherungsunternehmen sind jedoch ver­pflichtet, ihre Abschlüsse nach den IFRS aufzustellen. (Dabei handelt es sich um Mutterunternehmen eines Konzerns, die als Wertpapieremittenten auftreten, vgl. § 315a Abs. 1 HGB. Nach § 315a Abs. 3, S. 1 HGB dürfen auch andere Unternehmen freiwillig einen Konzernabschluss nach den IFRS aufstellen, vgl. auch Merkt, in Baumbach/Hopt, HGB - Kommentar, § 315a, Rn. 3 f. )

Andere Versicherungsunternehmen haben die Wahl zwischen der Bilanzierung nach HGB oder IFRS. Die IFRS-4-Vorschriften sind durch die EU-Verordnung 2236/2004 vom 29.12.2004 in europäisches Recht transformiert worden. (Abl. L 392, S. 37 ff) Danach ist vorgeschrieben, welche Angaben ein Versicherer in seiner Bilanz machen muss. Dazu gehören Angaben über die Bilanzierungs- und Bewertungsmethoden für Versicherungsverträge und zugehörige Vermögenswerte, Verbindlichkeiten, Erträge und Aufwendungen. (Abl. L 392, S. 45, Ziffer 36, 37.) Ferner hat der Versicherer u. a. Angaben zu machen über seine Ziele bei der Steuerung von Risiken, die sich aus Versicherungsverträgen ergeben, und seine Methoden zum Ausgleich dieser Risiken, Informatio­nen über das Versicherungsrisko, über Zinsänderungsrisiken und Ausfallrisiken. (Abl. L 392, S. 46, Ziffer 39 (a), (c), (d).)

An diesen Vorschriften soll weitgehend festgehalten werden, so dass vorgeschlagen wird, schon jetzt im Rahmen der 3. Säule von Solvency II, betreffend die Markttransparenz, zu prüfen, welche Informationen davon auch dem Verbraucher zugänglich gemacht werden sollten. (Hartung, Überprüfungsverfahren und Marktdisziplin als Instrumente der Versicherungsaufsicht, in: Gründl/Perlet (Hrsg.), Solvency II & Risikomanagement, 2005, S. 53 ff. (66 f.). )

Die Interessen der Versicherungsunternehmen und diejenigen der Marktgegenseite verhalten sich grundsätzlich konträr zueinander: Der Verbraucher hat ein Interesse an vollständiger Information über den "Zustand" des Versicherungsunternehmens, der durch die genannten Parameter wie Kapital­ausstattung oder Risikoprofil beschrieben wird. Das Versicherungsunternehmen hat dagegen das Inte­resse, möglichst wenige Informationen zu veröffentlichen, welches ausgerechnet dann steigt, je schlechter sein Zustand ist und je höher damit das Interesse der Marktgegenseite an der Information ist. (Vgl. Kraft/Nolte, Riskoberichterstattung von Versicherungsunternehmen ZVersWiss 2005, S. 422 ff. (438 f.): Bei der Auswertung der Riskoberichte verschiedener Versicherungsunternehmen wurde festgestellt, dass die Mannheimer Lebensversicherung AG im Jahre 2002 die Risiken aus Kapitalanlagen nicht als bestandsgefährdend benannte, obwohl die Bedeutung des Risikos deutlich wurde. )

Ähnlich scheint das auch die EU-Kommission zu sehen, nach deren Auffassung allein die Veröffentlichung von Informationen, wonach ein Unternehmen Probleme mit der Einhaltung von Aufsichtsvorschriften hat, "die Situation des Unternehmens erheblich verschlimmern" könne. (Kommission, a. a. O.) Aus diesem Grund empfiehlt die Kommission, "sorgfältig zu prüfen, ob bestimmte Aufsichtsinformationen veröffentlicht werden sollten oder nicht". (Kommission, a. a. O.) Auch andere sehen die Gefahr, dass durch eine Berichterstattung potenzielle Schieflagen erst ausgelöst oder verstärkt werden könnten. (Hartung, Überprüfungsverfahren und Marktdisziplin als Instrumente der Versicherungsaufsicht, in: Gründl/Perlet (Hrsg.), Solvency II & Risikomanagement, 2005, S. 53 ff. (67). )

Die BaFin verfolgt derzeit den Ansatz, zwar die Aussagen, die sie neuerdings durch ein automati­sisertes Bewertungssystem zur Risikoklassifizierung (Risikomatrix) über den Zustand eines Versicherungsunternehmens gewinnt, zu veröffentlichen, aber in anonymisierter Form. (Vgl. Sajkow, Die Riskomatrix der BaFin - Fehlberatung durch Makler unvermeidlich?, nestor informiert Nr. 6, S. 15 ff.) So ist bekannt, dass in 2005 etwa 28 Versicherungsunternehmen mittels der Risikomatrix von ihrer Qualität her als "niedrig" eingestuft wurden, jedoch wurden die Namen der Versicherungsunternehmen nicht bekannt gegeben. (Sajkow, a. a. O.) Die BaFin verweist zur Begründung auf § 84 VAG, wonach "die bei den Versicherungsaufsichtsbehörden beschäftigten oder von ihnen beauftragten Personen (...) bei ihrer Tätigkeit erhaltene vertrauliche Informationen an keine andere Person oder Behörde weitergeben" dürfen, es sei denn, in zusammengefasster oder allgemeiner Form, bei der die einzelnen Versicherungsunternehmen nicht zu erkennen sind.

Derzeit muss ein Versicherungsunternehmen den Jahresabschluss und den Lagebericht sowohl an die Aufsichtsbehörde als auch an jeden Versicherten (auf dessen Verlangen) übersenden, § 55 Abs. 2 u. 3 VAG. Allerdings hat das Versicherungsunternehmen gegenüber der Aufsichtsbehörde die Pflicht zur Berichterstattung in einer detaillierteren Form nach der Verordnung über die Berichterstattung von Versicherungsunternehmen gegenüber der BaFin (BerVersV) i. S. d. § 55a VAG. Hierzu gehören u.a. die Vorlage einer detailliert aufgegliederten Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung, Erläuterungen zu Kapitalanlagen und zu Bestandsbewegungen. (Vgl. Kölschbach, in: Prölss, Versicherungsauf­sichtsgesetz, § 55a, Rn. 20.)

Das pauschale Argument, durch eine zu weitreichende Information der Marktgegenseite könne der Bestand eines Versicherungsunternehmens gefährdet werden, ist in seinem Grundsatz sicher zu hinterfragen; allerdings bleibt zu bedenken, dass die im Netz der Finanzwelt transportierten Infos tatsächlich immer wieder weitreichende Konsequenzen im Marktgeschehen haben. Dennoch liegt es nicht im Interesse der Nachfrageseite, dass Versicherungsunternehmen, die sich in einem schlechten Zustand befinden, auf dem Markt weiterhin agieren. Eine für den Verbraucher zutreffende Zustandsbetrachtung und deren Bewertung wird allerdings immer schwieriger. Durch die Insolvenz eines Versicherungsunternehmens sind die Interessen seiner Versicherungsnehmer betroffen. Allerdings können und sollten die Auswirkungen einer Insolvenz über Sicherungsmechanismen, wie die Auffanggesellschaft Protektor AG, gemildert werden.

Doch wäre zu wünschen, dass es in vielen Fällen durch höhere Publizitätspflichten gar nicht erst zu der Gefahr einer Insolvenz kommen würde. Das der Druck der Marktgegenseite auf Versicherungsunternehmen zunehmen würde, ist heute wahrscheinlich eher auf volkswirtschaftlicher Modellbetrachtungsebene zutreffend, aber vermutlich in der Realität tendenzell unbedeutend. Ein Risikomanagement und eine Geschäftspolitik zu verfolgen, die die Gefahr einer Insolvenz sinken lässt ist natürlich immer dann im Handlungsfocus der verantwortlichen Konzernakteure,

wenn substantielle Wertschöpfung wieder Priorität gegenüber spekulationsmotivierter Marktverdrängung gewinnt.

(Die disziplinierende Wirkung der Weitergabe interner Informationen ist ebenso bei der 3. Säule der Basel II-Vorschriften beabsichtigt, vgl. Schubert/Grießmann, Solvency II = Basel II + X, VW 2004, S. 1399 ff. (1400).) Eine solche Wirkung wird heute schon bei Ratings von Versicherungsunternehmen festgestellt, denn sie üben einen hohen Druck auf deren Risikomanagement aus. (Renz/Best, Was bedeutet Solvency II für die Lebensversicherung?, in: Gründl/Perlet (Hrsg.), Solvency II & Risiko­management, 2005, S. 317 ff. (323).)

Im Rahmen der 3. Säule von Solvency II wird auch zu klären sein, in welcher Form die zu veröf­fentlichenden Informationen zur Marktgegenseite transportiert werden sollen. Es erscheint erforderlich, dass Informationen über den Zustand des Versicherungsunternehmens in einer Form veröffentlicht werden, die es der Marktgegenseite ermöglichen, die Information einzuordnen und zu bewerten. Bisher stehen die Anliegen von Verbaucherschutzverbänden nicht im Mittelpunkt der Erörterungen auf europäischer Ebene. Bei einer EU-Anhörung zu Solvency II am 21.6.2006 wurde von einem Verbrau­cherschutzverband jedoch vorgeschlagen, eine Kurzübersicht über die wichtigsten Bilanzkennzahlen für Kleinaktionäre und Versicherungsnehmer entsprechend der in Deutschland diskutierten Verbraucherinformation zu konzipieren.

Allerdings ist es zweifelhaft, ob ein Verbraucher eine solche Information einordnen kann. Es ist daran zu denken, dass diese Aufgabe auch Ratingunternehmen übernehmen können, die in der Lage sind, eine für den durchschnittlichen Verbraucher schwer zu erfassende Information aufzubereiten und in die Form eines codierten Bewertungssystems zu "übersetzen". Der darin enthaltende Informationsgehalt könnte wegen seiner Schlichtheit für den Verbraucher von einem höheren Nutzen sein als eine Kurzübersicht über Bilanzkennzahlen, welche den durchschnittlichen Verbraucher wohl nicht erreichen würde.

Quelle: nestor-Forscungsinstitut, Berlin, November 2006 - gelber Text: ergänzende Einschätzung von Carespektive, April 2008





 

 
 
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